Sitzfigur einer Frau

Staatliches Museum Ägyptischer Kunst München

Beschreibung

In ihrem formalen Aufbau folgt die Figur einer Frau dem klassischen Typus der Sitzfigur. Sie trägt eine auf den Schultern aufliegende Strähnenperücke, Ein enganliegendes Kleid mit nur einem Träger, der die linke Brust bedeckt, während die rechte frei bleibt, ist in weißer Farbe aufgemalt. Stilistisch wirkt die Figur plump: Der übergroße Kopf sitzt halslos auf einem zu kurzen Oberkörper, dem gegenüber der Unterkörper bis zu den Knien überlang ist. Die kurzen Unterschenkel sind stämmig, die Füße groß und kaum gegliedert. Entspricht die Figur in der Frontalen noch einigermaßen den Anforderungen an Aufbau und Struktur einer ägyptischen Statue, fällt sie in der Seitansicht völlig „aus dem Rahmen“: Der nach hinten gekippte würfelförmige Sitz zieht die Figur nach, die dadurch aus dem rechtwinkligen Achsenkreuz herausfällt. Diese Auflösung der rechtwinkligen Proportionen ist charakteristisch für die 1. Zwischenzeit (2170-2040 v. Chr.): Nach dem Zusammenbruch des Alten Reiches erlebt Ägypten eine rund 100-jährige Phase, die geprägt ist von sozialen Unruhen, wirtschaftlichem Niedergang und Hungersnöten. Dies führt unmittelbar zu einem deutlichen Qualitätsverlust im Bereich von Rundplastik und Relief – auch die Oberschicht verfügt nicht mehr über die Mittel, die Gräber aufwendig ausstatten zu lassen. “Sehet, das Land ist voll Banden; der Starke, dessen Habe raubt der Elende.(…) Sehet, die Beamtenschaft des Landes ist durch das Land hin vertrieben. (…) Sehet, die Armen des Landes sind zu Reichen geworden, wer etwas besaß, ist jetzt einer, der nichts hat. (…) Sehet, kein Amt ist mehr an seiner richtigen Stelle; sie sind wie eine aufgescheuchte Herde ohne Hirten“. So schildern die Mahnworte des Ipuwer die Zustände dieser Epoche, die gekennzeichnet ist von der Auflösung der Zentralmacht des Königtums und dem Zusammenbruch des Wirtschaftssystems. Die Verwendung des billigen, überall verfügbaren Materials Ton für eine Grabstatue lässt auf die Schwierigkeiten der provinziellen Werkstätten bei der Beschaffung des kostbaren Materials Stein schließen. Und doch kündet die bescheidene Figur nicht nur vom Verfall einer mehrhundertjährigen Tradition ägyptischer Bildhauerkunst: Die Detailfreude der Modellierung des Gesichtes und ihre Frische werden durch eine unbekümmerte Bemalung noch verstärkt. So markiert die Kunst der 1. Zwischenzeit nicht nur das Ende der künstlerischen Traditionen des Alten Reiches, ist nicht nur Tiefpunkt künstlerischen Schaffens, sondern signalisiert gleichzeitig einen Neubeginn, den Aufbruch zur Perfektion und Klassik des Mittleren Reiches (2040-1780 v. Chr.).